Montag, 8. Januar 2018

Bistum Trier: über die Phrase der "Null-Toleranz" - Ein Kommentar

Die amerikanische Linie der Nulltoleranz-Linie gegenüber den Tätern ist bis heute die Ausnahme von der Regel. Die Bischofskonferenz der USA hatte sich ihr Vorgehen als nationales Sonderrecht („kirchliches Partikularrecht“) in Rom genehmigen lassen. - In Deutschland hielt man das offensichtlich nicht für nötig. 

Anders als in den USA wird die kirchenrechtliche Höchststrafe der Entlassung aus dem Priesteramt nämlich hierzulande nur in extremen Fällen angewandt. Nicht selten setzen Bischöfe – nach Therapien und positiven forensischen Gutachten – die meist schon betagten Täter weiterhin in der Sonder- oder Aushilfsseelsorge, Altenheimen und Krankenanstalten ein. 

Der Missbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz , Ackermann, sagte im September 2013 in einem Interview mit dem Kölner „domradio“ unter der irreführenden Überschrift: „Natürlich wird ein Täter nicht mehr eingesetzt“
„Bei den Klerikern war es ja so, dass wir bei den Leitlinien 2010 vor allem auch geschaut haben, was geschieht mit jemandem, der straffällig geworden ist, der Täter ist. Was ist da denkbar an künftigem Einsatz. Wir haben vor allen Dingen auf die Schwere des Vergehens geschaut. Auch die Strafe, die zu verhängen ist, natürlich immer in enger Abstimmung mit der Glaubenskongregation in Rom. Und zweitens haben wir geguckt, wie ist das Risiko. Die forensische Begutachtung soll ja dazu dienen, zu schauen, wie ist das Risiko, ob es da ein Gefährdungspotenzial gibt, auch künftig. Und wir hatten klar gesagt, es gibt die Einschränkung, natürlich wird jemand, der Täter geworden ist, nicht mehr eingesetzt im Bereich Kinder- und Jugendarbeit. Aber das heißt natürlich, dann auch nicht mehr im allgemeinen Feld der Pastoral, etwa als Pfarrer, weil Kinder und Jugendliche zu diesem Feld dazugehören.“ 
Worte, an die sich Ackermann allerdings selbst nicht hielt. Es verging seitdem kaum ein Jahr, in dem die Medien nicht über einen Pfarrer berichteten, der weiterhin zelebrierte - auch wenn er mit Vorwürfen sexuellen Missbrauchs, Übergriffen, Distanzunterschreitungen etc. konfrontiert war. 

Seine Null-Toleranz-Politik, so räumte Ackermann später ein, sei missverstanden worden. Sie gelte nämlich nicht – wie beispielsweise in den USA – den Tätern, sondern lediglich den Taten. 

Ackermann präzisierte daraufhin auch seine Aussage gegenüber auffällig gewordenen Priestern: "Erst, wenn ein pädophiler Täter (also ein Priester, der nicht nur pädophil diagnostiziert wurde, sondern auch wegen Missbrauchs verurteilt wurde, ca) im Kirchendienst bleibe, müsse ein psychiatrisches Gutachten klären, ob und wie er ohne Gefährdung Minderjähriger eingesetzt werden könne."

Pädophil diagnostiziert wurde bisher jedoch nur eine geringe Prozentzahl der Priester, die sich an Kindern und Jugendlichen vergingen. - Somit hat auch kaum ein Priester im Bistum Trier zu befürchten, aus dem Klerikerstand entlassen zu werden:  Es müssen nämlich gleich drei Kriterien erfüllt sein, bevor sich sowohl ein Priester, der sich an Kindern verging als auch Bischof Ackermann Gedanken um eine Entlassung des Priesters aus dem Klerikerstand machen muss. Erstens muss ein Priester pädophil diagnostiert werden. Zweitens: seine Prognose muss als "gefährdend gegenüber Kindern" eingestuft sein und drittens: Der Priester muss wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt worden sein, so dass er überhaupt strafrechtlich als Täter gilt. - In den meisten Fällen wird erst dann die Glaubenskongregation in Rom für eine Entlassung aus dem Klerikerstand stimmen. - Und dies trifft auf die wenigstens Priester, die sich an Kindern vergingen,  zu. - Allein schon dadurch, dass eine Vielzahl der Taten  nach der deutschen Gesetzgebung verjährt ist. 

Die Befürchtungen, dass die meisten Priester, auch diejenigen, die im Bistum Trier in den letzten Jahren sexuell auffällig wurden, nahezu uneingeschränkt weiter zelebrieren, dürfte sich bewahrheiten.  Was sich bisher belegen ließ:  Pfarrer, die bzgl. ihrer priesterlichen Tätigkeiten Einschränkungen auferlegt bekamen und sich nicht daran hielten, hatten bisher keinerlei Konsequenzen zu befürchten.  Die Anzahl der Priester, die von Bischof Ackermann aus dem Klerikerstand entlassen wurden, lassen sich aufgrund der hohen Toleranz des Missbrauchsbeauftragten an einer Hand abzählen. So sind im Bistum Trier bisher offiziell drei Priester entlassen wurden. Allerdings erst, nachdem Medien über die Fälle berichteten.  - Und: Einer von ihnen bat dabei selbst um die Entpflichtung.  

- Während Bischof Ackermann sich also weiterhin auf Begutachtungen verlässt, bzw. die Gutachten als Grundlage für eine Weiterbeschäftigung zunutze zieht und die Priester, die sexuell missbraucht haben, weiter beschäftigen kann, gesteht der Schweizer Bischof Felix Gmürr nun ein: „«Solche Berichte sind zwar in schönem Deutsch verfasst, aber sie tönen für mich als Nichtfachmann manchmal etwas schwammig. Es wird bei der Beurteilung einer Rückfallgefahr viel im Konjunktiv geredet – könnte, sollte, müsste und vielleicht –, weil man es eben hier nicht mit harten Fakten zu tun hat. Wie schätze ich die Gefahr also ein?» Weiterhin stellt Gmürr die Frage: "Was tun, wenn beim Täter die Einsicht fehlt?" - und zwar unabhängig davon, ob er verurteilt wurde oder nicht.
2012 ließ Ackermann veröffentlichen: „Selbstverständlich müssen wir uns zunächst um die Opfer kümmern, sind aber auch verpflichtet, uns mit den Tätern und ihrem Verbleib auseinanderzusetzen – nicht zuletzt unter Wiedereingliederungs- und Rückfallgesichtspunkten sowie vor dem Hintergrund der Rechte eines jeden Menschen. Unsere langfristige Arbeit mit sexuellen Missbrauchstätern aus dem kirchlichen Umfeld ist eine herausfordernde, aber notwendige Arbeit“, sagte Msgr. Arsenault. „Ein Behandlungsprogramm muss sowohl die verhaltens- und psychodynamische Perspektive, aber auch die kirchlich-spirituelle Dimension eines Täters berücksichtigen“, sagte Arsenault und unterstrich dabei auch die Bedeutung eines länderübergreifenden Austauschs."
Dass Ackermann sich selbst bis in das Jahr 2017 nachweislich intensiver um auffällige Priester kümmerte, als um eines seiner Opfer ist bekannt und belegbar. Auch, dass Ackermann 2012 die "Bedeutung eines länderübergreifenden Austauschs" betont, hat einen sehr bitteren Beigeschmack: "Länderübergreifend" wurden nämlich bisher die Täter ausgetauscht. Bei der Antwort auf die Frage, wie man mit auffällig gewordenen Priestern verfährt, scheint dieser "länderübergreifenden Austausch" nicht so erfolgreich gewesen zu sein wie bei der Versetzung der Täter. Sonst würden sich die Schweizer Bischöfe heute wohl kaum mit der Frage konfrontiert sehen, auf die Bischof Ackermann seit acht Jahren keine Antwort findet. - Die USA hatte auf diese Frage schon Jahre zuvor eine Antwort: Keine Toleranz gegenüber den Tätern. 

Doch nicht nur in seinem  eigenen Bistum, sondern auch länderübergreifend wahrt der Missbrauchsbeauftragte eine große Toleranz gegenüber den Tätern. Dies wird z.B. im Fall des ehemaligen chilenischen Bischofs deutlich, auf dem Vorwürfe schwersten sexuellen Missbrauchs lasten und der seit 2005 im Bistum Trier Zuflucht gefunden hat.

Über den ersten offiziellen Fall im Umgang mit vorbestraften Priestern im Bistum Trier berichtete übrigens der „SPIEGEL“ im Jahr 1973: Ein in Österreich wegen Unzucht mit drei Jugendlichen zu fünf Monaten Kerker verurteiltem Priester, der in der Diözese Freiburg Priester werden wollte, wurde seine Bewerbung wegen „der Gefährdung der ihm anzuvertrauenden Jugendlichen“ abgelehnt. – Im Bistum Trier hingegen gab es keine Bedenken. Der damals amtierende Bischof Matthias Wehr schickte ihn ausgerechnet auf die Vakanz in Ehlenz (wo 1960 schon sein Vorgänger wegen gleichartiger Neigungen in einer "Nacht-und-Nebel-Aktion abgeholt worden war): In Ehlenz verging sich der Geistliche dann in über hundert Fällen an 19 Kindern und Jugendlichen. Der Artikel endet mit dem Zitat eines Dorfbewohner: “ "Die größte Schweinerei hat der Bischof gemacht, wenn er gewußt hat, dass der Pastor so'n Kerl war."  

2015 dann eine neue Erklärung zur "Nulltoleranz": Für Ackermann steht fest, dass in seiner Kirche inzwischen eine Nulltoleranz gegenüber sexuellen Übergriffen herrscht - "nicht formaljuristisch, aber faktisch".

- Immerhin legt die Schweizer Bischofskonferenz Zahlen vor, die zeigen, dass in den letzten sechs Jahren zwei Beschuldigte verwarnt wurde, zwei ein Rayonverbot erhielten, drei Beschuldigte aus dem Kirchenamt entlassen wurde, einer suspendiert und einem weiteren eine Aufgabe zugewiesen wurde, bei der er keinen Kontakt zu potenziellen Opfern hat. Sechs Beschuldigte machten eine Therapie. 

In Deutschland hält der Missbrauchsbeauftragte diese Zahlen unter Verschluss bzw. behauptete Ackermann im März 2016 in einem Interview im „tagesspiegel“ auf die Frage: „Wie viele Täter wurden aus ihren Ämtern entlassen?

„Da bin ich überfragt.“

- Manch ein Betroffener hofft daher auf die Paralleljustiz des Kirchenstrafrechts: "Die Ahndung von sexuellem Missbrauch wird nach Auffassung des Vatikans jedoch oft durch unzureichende Kenntnisse der Bischöfe im katholischen Kirchenrecht behindert. "Das Problem sind nicht so sehr die Instrumente, die zur Verfügung stehen, sondern eher ihre Kenntnis und korrekte Anwendung", sagte der Präsident des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte, Kardinal Francesco Coccopal." 

Dass ein kirchenrechtliches Strafenverfahren in Deutschland allerdings mit nicht zu vielen Hoffnungen für ein Opfer verbunden sein darf, zeigen folgende Fälle:
  • Bistum Würzburg: "Das Bistum kam hingegen in einem internen Kirchengerichtsverfahren zu der Ansicht, "die behauptete Straftat" sei "nahezu auszuschließen." Aus den rund 1300 Seiten internen Akten über das Verfahren, die dem SPIEGEL vorliegen, geht dabei hervor, dass der Beschuldigte selbst gemeinsam mit dem damaligen Generalvikar des Bistums entschied, den wohl verjährten Fall nicht durch eine Staatsanwaltschaft überprüfen zu lassen. Obendrein wurde der mutmaßliche Täter über die Vorwürfe vorgewarnt, durfte im Würzburger Kirchenarchiv sonst unzugängliche Akten zu seinem eigenen Fall durcharbeiten und konnte so selbst Einfluss auf den Gang des Verfahrens nehmen." (spiegel.de)
  • Der Film "Richter Gottes" gibt zum ersten Mal einen Einblick in die Welt der deutschen Kirchengerichte. Er zeigt, welche Prozesse dort geführt werden. Wer die Angeklagten, wer die Opfer sind. Wer dort richtet. Zum ersten Mal sprechen Prozessbeteiligte ausführlich über ihre Arbeit. Erzählt wird entlang der Geschichte eines Missbrauchstäters der katholischen Kirche in Deutschland. Es ist das erste Mal, dass er sich überhaupt öffentlich äußert. Er und auch seine Opfer berichten in diesem Film von ihrem Kirchengerichtsprozess, vom Umgang der Kirche mit diesem Fall. ("Richter Gottes - die geheimen Prozesse der Kirche", ARD) ab Minute 11.36 (gbs, Koblenz)
  • "Ausgeschlossen, dass man Pfarrer H. jemals noch mit Jugendlichen arbeiten lässt" - so schrieb der Psychiater Werner Huth  über einen pädophilen Gottesmann. Doch das Erzbistum München ignorierte die Warnung.
Am 15. Juli 2010 hat die römische Glaubenskongregation eine Neufassung der ihr vorbehaltenen Normen über schwerwiegende Straftaten (Normae de gravioribus delictis Congregationi pro Doctrina Fidei reservatae) veröffentlicht. Die Novellierung dieses erstmals im Jahre 2001 erschienenen Erlasses verwertet die praktischen Erfahrungen der letzten neun Jahre in materiell- und verfahrensrechtlicher Hinsicht.

Sie berücksichtigt auch die am 12. April 2010 von derselben Kongregation gebotene "Verständnishilfe für die grundlegende Vorgangsweise bei Vorwürfen sexuellen Missbrauchs". Beigegeben sind der Verlautbarung ein kurzes einführendes Schreiben des Präfekten der Glaubenskongregation, ein Überblick zur Entwicklung des einschlägigen kirchlichen Rechts seit dem Codex Iuris Canonici/1917 und eine Erklärung des Pressesprechers.Gegenüber der bisher geltenden kirchenrechtlichen Lage betreffend die Missbrauchsdelikte sind folgende Änderungen hervorzuheben:
  • Die Verjährungsfrist wird auf 20 Jahre verlängert, verbunden mit der Möglichkeit einer weiteren Erstreckung oder Aufhebung im Einzelfall (Art. 7 § 1). Damit kommt das kirchliche Recht ähnlichen Forderungen aus staatlicher Sicht entgegen.
  • Erwerb, Aufbewahrung und Verbreitung von kinderpornographischem Material durch Kleriker in übler Absicht (turpe patrata) werden als selbständiger Tatbestand erfasst (Art. 6 § 1 Nr. 2). Dieser geht zum Teil über die entsprechende Normen weltlichen Strafrechts (§§ 184b, 184c StGB) hinaus.
  • Der Schutzbereich des Missbrauchsdelikts, ursprünglich auf Minderjährige beschränkt, wird auf Erwachsene mit geistiger Behinderung ausgedehnt (Art. 6 § 1 Nr. 1).
  • "Sehr schwerwiegende Fälle", bei denen die begangene Straftat offenkundig ist und dem Angeklagten die Möglichkeit zur Verteidigung gegeben worden war, kann die Kongregation dem Papst direkt vorlegen, damit dieser über die Entlassung aus dem Klerikerstand oder über die Absetzung zusammen mit der Dispens von der Zölibatsverpflichtung entscheidet (Art. 21 § 2 Nr. 2). Damit wird eine schon in der Verständnishilfe (Teil B unter 2) beschriebene Verfahrensweise normativ erfasst.
Ein kirchenrechtliches Strafverfahren führt in den allerwenigsten Fällen zu einer Entlassung aus dem Klerikerstand. - Doch wäre das nicht das Mindeste, was man den Betroffenen schuldig ist?

Claudia Adams