Donnerstag, 19. Juni 2014

offener Brief an Prälat Dr. Scherschel als Reaktion auf seinen Leserbrief - "Soll ich Ihnen jetzt auch noch meine rechte Wange hinhalten?"

 
Dr. Rainer Scherschel.

Herr Prälat Dr. Scherschel!

Ich beziehe mich auf Ihren öffentlichen Leserbrief zum Artikel "Missbrauchsvorwürfe gegen Trierer Bistumspriester" (TV, 7./8/.9. Juni 2014):

Offensichtlich scheint es eines Ihrer derzeit größten Probleme zu sein, dass der „Trierische Volksfreund“ ausgerechnet am Pfingstwochenende (!) obigen Artikel veröffentlichte. Da scheint der Heilige Geist doch tatsächlich - zumindest Ihrer Meinung nach -  das Bistum Trier verfehlt zu haben - aber völlig!

Glauben Sie mir, mir wäre es auch lieber gewesen, der Artikel wäre ein paar Jahre früher erschienen, so dass die Verjährungsfrist noch nicht eingetreten wäre und sich der mutmaßliche Täter hätte vor Gericht verantworten müssen. Womöglich hätten sich sogar mögliche weitere Übergriffe an Kindern durch eine sofortige Anzeige verhindern lassen können -  aber dieses Interesse geht aus Ihrem Leserbrief leider nicht hervor. Im Gegenteil – Sie verwenden mehrere Zeilen Ihres Textes auf das Layout des Artikels und echauffieren sich sogar darüber, wie es möglich sein kann, dass man angeblich sogar die „Untaten“  (!!) aufzähle - und das noch am Pfingstwochenende!

Ich darf Sie korrigieren, Herr Dr. Scherschel!  Die Anzahl - der von Ihnen durch das Wort „Untaten“ absolut verharmlosten Tatsache - der zum Teil schweren sexuellen Übergriffe sind bis heute nicht bekannt.  Sie selbst scheinen offensichtlich mit den Zahlen zu jonglieren. Bei derzeit 74 bekannten Priestern, die - erfahrungsgemäß nur die Spitze des Eisbergs darstellen - ist davon auszugehen, dass die Anzahl der "Untaten" im hohen dreistelligen Bereich, vermutlich sogar eher im vierstelligen Bereich liegt.  "Lediglich" 74 Priester wurden mit plausiblen Vorwürfen sexuellen Missbrauchs konfrontiert.  – Viele Vorwürfe wurden von Ihrem Nachfolger, Herr Rütten, als „Distanzunterschreitung“ oder als „nicht plausibel“ eingestuft, da den Betroffenen nicht geglaubt wurde. Die Zahl "74" entspricht also weder der Anzahl der "Untaten", geschweige denn der Zahl der Priester, gegen die überhaupt Vorwürfe erhoben worden sind und von denen einige weiterhin im Einsatz sind - diese Zahl ist nämlich nachweislich noch höher. Denn nachweislich wurde - entgegen Ihrer Behauptung - nicht jeder Priester, gegen den Vorwürfen erhoben wurden, umgehend "beurlaubt". 

Ihre Behauptung „Außerdem werden Vorgänge zusammengezählt, die man eigentlich gar nicht zusammenzählen kann, nämlich sowohl nach deutschem Recht strafbare wie auch nicht strafbare Handlungen, denen nur die Kirche wegen ihrer eigenen Gesetze nachgeht“  scheint an Zynismus kaum mehr zu überbieten.

Wollen oder können Sie nicht verstehen? - Zur Erinnerung: Ich wurde als Kind während meiner Zeit im Kindergarten mehrfach von dem katholischen Pfarrer vergewaltigt. Ich war 3 (!) Jahre alt, als der Missbrauch begann.. Als ich diese "Untaten" (wie Sie es formulieren)  zur Anzeige brachte, waren die Taten zivil- wie strafrechtlich verjährt.  Der Täter inzwischen verstorben -  Vielleicht war es sein Glück. Zumindest kann ich von Glück sprechen, wenn ich davon ausgehe, dass mein Täter sich nicht an weiteren Kindern vergehen konnte.

Verdammt noch einmal, Herr Scherschel, ich erwarte von der Kirche, dass sie WENIGSTENS ihren eigenen Gesetzen nachgeht und kirchenrechtliche Verfahren einleitet und die Priester, die noch am Leben sind, aus dem „Verkehr“ gezogen werden! 

Damit es nicht wieder geschieht. Verstehen Sie? – Einen Sexualstraftäter weiterhin im Einsatz zu lassen und dadurch Kinder dieser Gefahr auszusetzen, darf nicht sein. Die Tat mag vielleicht verjährt sein, aber meinen Sie tatsächlich, der Trieb sei auch verjährt? 

Es ist unglaublich, dass ausgerechnet Sie, nicht nur in Ihrer Funktion als ehemaliger Ansprechpartner für uns Betroffene – sondern auch als ehemaliger Personalchef (!) - solche Worte äußern!

Sie werden verstehen, dass ich auch an Ihrer Aufrichtigkeit, welche den angeblichen Aufklärungswillen der katholischen Kirche betrifft, zweifle. Schließlich waren Sie über Jahre hinweg der Personalverantwortliche. Und schließlich hatten Sie Zugang zu den Personalakten - deren Vollständigkeit nach wie vor in Frage gestellt wird!  Und ausgerechnet Sie erheben jetzt den moralischen Zeigefinger? Sie - bei dem ich mich frage, ob Sie von sich selbst behaupten können,  ein reines Gewissen zu haben!

Wären Sie wenigstens sich selbst gegenüber so ehrlich gewesen und hätten Sie diese Einstellung bereits zu dem Zeitpunkt geäußert, als man Sie zum „Missbrauchsbeauftragten“ ernannte, wäre uns diese Enttäuschung erspart geblieben.

Weiter behaupten Sie in Ihrem Leserbrief: „In dieser Statistik finden sich sogar Beschuldigungen gegen Priester, die bereits verstorben waren, als die Vorwürfe erhoben wurden, und die nie die Gelegenheit hatten, sich dazu zu äußern.“ 

Herr Dr. Scherschel! Soll ich Ihnen jetzt auch noch meine rechte Wange hinhalten?

Ein Schlag ins Gesicht! Mit der flachen Hand. Und das von dem Mann, dem wir Opfer vertrauten. Voller Hoffnung.

Wo auch immer Sie auf meinen Täter treffen sollten – mag es nach Ihrem abstrusen Glauben im Himmel oder vielleicht doch in der Hölle sein – fragen Sie ihn. Schauen Sie ihm in die Augen und fragen Sie ihn, was er mit angetan hat. - Und verdammt noch einmal, Herr Dr. Scherschel, schauen Sie mir in die Augen und versuchen Sie, Ihre Anspielung  ("Priester, die verstorben waren als die Vorwürfe erhoben wurden , hatten nie die Gelegenheit, sich dazu zu äußern") aufrecht zu erhalten - nach all der Korrespondenz, die Sie und ich miteinander führten. 

„Wohlgemerkt, jeder Missbrauch eines Priesters tut weh und ist zutiefst zu bedauern, weil menschliches Vertrauen missbraucht worden ist.“ – Ja, Herr Dr. Scherschel, der Missbrauch tut weh – allerdings ist nicht nur körperliche Schmerz unsagbar grauenvoll. Dieser Schmerz geht irgendwann vorbei, doch die Seele bleibt verwundet. Ein Leben lang.  Wir Opfer haben lebenslänglich. Jahr für Jahr, Tag für Tag spüren wir die Folgen dieses Schmerzes. – Sie behaupten jedoch, der Missbrauch sei schmerzhaft,  "weil menschliches Vertrauen missbraucht wurde". Oh ja. Dieser Schmerz kommt auch noch hinzu!  Auch unser Vertrauen wurde missbraucht. Ebenso, wie das Vertrauen derer, die uns Kinder der Kirche anvertrauten.  Und genau dieses Vertrauen wurde derart massiv verletzt, dass unsereiner sich komplexe neue  Überlebensstrategien  erarbeiten musste, um überhaupt überleben zu können.  Und in diesem Überlebenskampf trafen sich unserer Wege, als wir Opfer Menschen wie Ihnen erneut Vertrauen entgegenbrachten. Aus der letzten Reserve heraus, in der Hoffnung, man würde uns Glauben schenken, die Taten aufklären und die Wahrheit ans Licht bringen. Damit sich das alles niemals wiederholen würde. - Dasselbe Vertrauen, mit denen wir damals völlig unbedarft als Kinder den Tätern in der katholischen Kirche ausgeliefert waren, haben Sie, Herr Dr. Scherschel,  erneut missbraucht. - Und dies nicht minder schmerzhaft.

Ihre Aussage, dass dies alles "zutiefst bedauernswert" sei, lässt daher weitere Fragen zu: Was bedauern Sie denn angeblich „zutiefst“? – Bedauern Sie den Priester, der seiner Neigung nachgegangen ist? Bedauern Sie Ihren Gott, dass er diese  „Untat“ zuließ? Bedauern Sie, dass so vieles ans Tageslicht kam - wohlwissend, dass es sich hier nur um die Spitze des Eisberges handelt? Oder bedauern Sie, dass es ein paar Betroffenen gelungen ist, ihr Schweigen zu brechen?   Bedauern Sie, dass ausgerechnet am Pfingswochenende ein solcher Artikel erscheint? -  Dann müsste es mir ja schon quasi Leid tun, dass ich Ihnen diese Zeilen an Fronleichnam schreibe. - Aber: Uns Betroffenen ist es gleich, welcher Tag ist. Denn wir leiden täglich. Auch an Sonn- und Feiertagen!

Herr Dr. Scherschel, das Einzige, was zu diesem Zeitpunkt bedauernswert ist, ist Ihre offensichtliche Einstellung!  -  Scheinbar sind Sie sich über die Auswirkungen Ihrer Zeilen als ehemaliger Ansprechpartner für Betroffene sexuellen Missbrauchs durch Angehörige der katholischen Kirche nicht bewusst. - Wir haben Ihnen die Tathergänge auf mehreren Seiten detailliert geschildert. Unsereiner musste Personen wie Ihnen den Vertrauensvorschuss geben und Tathergänge möglichst  detailliert schildern - die Angst im Nacken sitzend, dass diese Beschreibung nicht erneut zu sexuellen Handlungen Ihrerseits führten. Wissen Sie, was das für eine Qual war? Solch' grausame Einzelheiten weiterzugeben und sich erneut eiuem Fremden gegenüber "blank zu ziehen" zu müssen,  als wäre der Missbrauch, den wir Jahre zuvor am eigenen Körper erleiden mussten an sich nicht schon grauenvoll genug gewesen? Als würde man alles noch einmal erleben?! Und nicht wissend, in welche Hände die Beschreibung gelang.  Und jetzt dieser gefühlte Schlag ins Gesicht. Ausgerechnet von Ihnen. 

Ihre Aussage: „Das war jetzt die 73. Straftat eines Polizisten in den letzten 60 Jahren oder der 75. Missbrauchsfall eines Lehrers seit dem Zweiten Weltkrieg?“ lässt übrigens eindeutig darauf schließen, dass Sie offensichtlich einem großen Denkfehler unterliegen – womöglich aber auch die Realität nicht wahrhaben wollen: Es war nicht die 76. Straftat eines Priesters, sondern es gibt derzeit offiziell 74 Priester im Bistum Trier, die mit plausiblen Tatvorwürfen sexuellen Missbrauchs konfrontiert wurden! Ich hoffe und wünsche Ihnen,  dass Sie diesen Unterschied begreifen. - Davon ab wage ich stark an Ihrem Verstand  zu zweifeln, wenn Sie als Beispiel nehmen, dass "niemand auf die Idee käme,  die  73.  Straftat eines Polizisten" in Erinnerung zu rufen. Wissen  Sie, warum es niemals dazu kommen wird? - Weil der Polizist bereits vorher seines Amtes enthoben werden würde! - Dass die Kirche allerdings mit erhobenem Zeigefinger auf andere verweist, sind wir Betroffenen bereits gewohnt. Sie, Herr Dr. Scherschel, sollten allerdings nicht ein Beispiel aufnehmen, dass als "Eigentor" bezeichnet wird und das eigene Versagen noch deutlicher macht!

Ihr Hinweis, die "Bürger" seien geschützt, erscheint ebenso aufschlussreich Ihre Sichtweise offenzulegen. Ich gehe davon aus, Sie meinen in diesem Fall die Sexualstraftäter. Warum bezeichnen Sie diese dann nicht als solche?  Nein, Sie betonen sogar, dass man die Täter schützen müsse! - Der Täter steht - wie so oft - im Vordergrund. Ihm wird das Hauptanliegen und die Hauptfürsorge gewidmet. Und das alles im Namen des Herrn.

 Herr Dr. Scherschel, ich gebe Ihnen den Tipp, Ihre Scheuklappen ein wenig hochzuziehen, vielleicht würden Sie dann auch Ihre Aussage revidieren: „Eine solche Statistik, wie sie bei den katholischen Priestern aufgemacht wird, ist bei anderen Bevölkerungsgruppen nicht möglich.“ Diese Aussage entspricht nämlich nachweislich nicht der Wahrheit.  Allerdings gebe ich zu, dass einem solche Statistiken nicht bekannt sein müssen, wenn man sich – scheinbar wie Sie  – nicht damit beschäftigt. Wozu auch, schließlich waren Sie ja lediglich Missbrauchsbeauftragter …?! – Und nach Ihrem Leserbrief zu urteilen: Leider in dieser Funktion völlig fehl am Platz!

Weiterhin behaupten Sie: „Obwohl die katholische Kirche als einzige verfolgt, was jenseits der bürgerlichen Verjährungszeiten liegt, wird sie an den Pranger gestellt, als zu lasch“. – Ich hoffe, der Hinweis auf die Vorgehensweise der evangelischen Kirche im Umgang mit verjährten Sexualstraftaten reicht bereits aus, um auch diese Behauptung zu wiederlegen.  

Dass die Vorgehensweise sowohl der Aufklärung der Missbrauchsfälle wie auch im Umgang mit der Thematik „Prävention“ aus Betroffenensicht das Handeln der Kirche als „lasch“ bezeichnet wird, dürfte inzwischen also auch bei Ihnen angekommen sein.  Auf der einen Seite freut mich dies  – es zeugt allerdings auch davon, dass Sie die letzten Jahre offensichtlich nicht die ernstzunehmenden Kritiken an der katholischen Kirche verfolgt haben. Und das wiederum  ist für einen ehemaligen Missbrauchsbeauftragten traurig!

Ein weiterer trauriger Höhepunkt liest sich im letzten Satz Ihres Leserbriefes: "Danach können wir darüber reden, ob für den Trierer Bischof die Einsetzung einer unabhängigen Kommission erforderlich ist." - Herr Dr. Scherschel! - Sie erheben auf diese Weise von ganz oben herab sinnbildlich den Zeigefinger gegenüber uns Betroffenen und scheuen sich nicht davor, klarzustellen, dass erneut die Kirche bestimmt, was geschieht!

Genau wie damals. Zum Tatzeitpunkt. Als die Pfarrer uns gegenüber nach den Taten mit dem Zeigefinger drohten: Wir sollten schweigen. - Der Schmerz, der durch Ihre Zeilen ausgelöst wird, ist derselbe wie damals. Glauben Sie mir!

Sie reißen mit dem in Ihrem Leserbrief geäußerten erniedrigenden Gedankengängen eine Wunde auf, deren Heilung womöglich ein Leben lang dauert, insofern man überhaupt von "Heilung" sprechen kann. 

Das,  was Sie mit diesem Leserbrief an Gedankengut geäußert haben, Herr Dr. Scherschel, stellt einen weiteren schmerzhaften Tiefpunkt der Glaubwürdigkeit an einem ernstgemeinten Aufklärungswillen der katholischen Kirche dar.

Fazit:  Durch Ihre Meinung, die Sie, Herr Dr. Scherschel,  in Ihrem Leserbrief veröffentlichten, veranschaulichen Sie als trauriges Beispiel das Versagen der katholischen Kirche - in seiner ganzen Form.

Zu den der katholischen Kirche inzwischen zugeschriebenen Attribute wie „scheinheilig“, „unglaubwürdig“, „ täterschützend „ etc.  haben Sie Ihren Teil dazubeigetragen.

Sie hätten besser geschwiegen! 

Claudia Adams